aberverafichtdasnichtan
Mittwoch, 19. Juni 2013

Die andere Seite des Protests im Zentrum São Paulos, ganz in der Nähe unseres Büros in Sampa, nachdem die friedlichen Massen zur Avenida Paulista weitergezogen waren.

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Bei der Suche nach den Gründen für die Proteste in Brasilien wird munter nach Erklärungen gefischt. Erst hieß es, die 10 Cent der Fahrpreiserhöhungen seien Schuld, dann war es die Geldverschwendung für den Confed-Cup und die WM. Da fragt man sich doch, ob die brasilianischen Demonstranten wohl so dödelig sind, dass sie erst merken, dass Geld verschwendet wird, wenn in den Stadien schon gespielt wird. Nach den selbstgemalten Pappschilder der Demonstranten zu urteilen, geht es um Verbesserungen des Erziehungssystems, der medizinischen Versorgung und gegen Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder.
Die brasilianische Regierung findet die Proteste super, kann sie sich aber nicht erklären. Wahrscheinlich haben diese Kämpfer gegen die Diktatur irgendwann angefangen, an die eigene Propaganda zu glauben. Die Presidenta hat jedenfalls erst mal bei Herrn Lula angefragt, ob er da ne Erklärung für hat.
Vielleicht ist es die erste Generation nach der Rückkehr zur Demokratie mit der Verfassung 1988 oder die mit sozialen Netzwerken groß gewordene Generation, die man global und nicht lokal verstehen muss. Siehe Frankreich, Israel, Spanien und England und nicht nur Tunesien und Ägypten. Siehe occupy und blockupy.

Brasilien wird im Jahr 2013 wieder von einer erfahrungsgemäß die Unterschicht besonders beeinträchtigenden Inflation bedroht, die sich unter anderem in stark steigenden Preisen für Grundnahrungsmittel und eben auch in Fahrpreiserhöhungen niederschlägt.
Auch die öffentliche medizinische Grundversorgung hat sich in der letzten Dekade nicht gebessert und ist nur als jämmerlich zu bezeichnen. Für die meisten Brasilianer gibt es für die schlechten Leistungen des Staates zwei einfache Gründe: Verschwendung und Korruption.
Dazu passen zwei Korruptionsprozesse gegen hochrangige Politiker verschiedener Parteien, unter einem einen gegen hochrangige Politiker aus dem unmittelbaren Feld Lulas, als er noch Präsident war, bei denen letztere im Jahre 2012 vom höchsten brasilianischen Gericht, dem STF (das u.a. ähnliche Aufgaben wie das BVerfG in D hat), zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Die meisten Brasilianer, mit denen ich darüber gesprochen habe, sind zwar erstaunt, dass es dazu gekommen ist, sind sich aber sicher, dass alles in Pizza endet, weil die politische Klasse ein undurchdringliches System geschaffen hat, in dem eine politische Einflussnahme durch die üblichen Kanäle nicht mehr möglich ist.
Solche Demonstrationen seien, so hieß es gestern in einer der Nachrichtensendungen, die einzige Form, diese Abschottung der politischen Klasse zu durchbrechen.
In Brasilien hat das durchaus Tradition. Die Demonstrationen für Direktwahlen des Präsidenten in den Achtzigern (an denen neben Lula auch viele andere Politiker des heutigen politischen Systems gehören) und gegen den ehemaligen Präsidenten Collor in den Neunzigern (dreimal dürfen sie raten, wer bei den Wahlen damals sein Gegenkandidat war) sind dafür überaus erfolgreiche Beispiele.
Bei der Gewaltfreiheit der ganz überwiegenden Mehrheit der Teilnehmer, die sich in den letzten Tagen auch wiederholt gegen gewalttätige Demonstrationsteilnehmer wandten, um Polizisten zu schützen oder den Sturm der Stadtverwaltung in São Paulo zu verhindern, fühlte man sich gar an 89 erinnert. Vielleicht ist eine Erklärung für den Umfang der Proteste daher ja auch, wie eine Reporterin gestern meinte, das zum Teil brutale Vorgehen der Polizisten bei den ersten Demonstrationen.

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Last modified: 13.06.16, 17:44
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