aberverafichtdasnichtan |
Sonntag, 9. Mai 2010
15 Jahre Brasilien
Vladimir Golombek
09:44h
Heute vor genau bin ich in Brasilien gelandet. Um nicht kurz vor dem großen Schritt das Muffensausen zu bekommen, hatte ich mich mit der Reise nach der festen Zusage des Referendariatsplatzes zwei Jahre vorher überhaupt nicht mehr mit meinem sechsmonatigen Aufenthalt in São Paulo auseinandergesetzt. Erst sechs Tage vor der Reise, d.h. nach Abschluss der Klausuren des Zweiten Staatsexamens begann das Zähneklappern, da ich weder eine Kreditkarte noch Geld noch eine Unterkunft hatte. Der Portugiesisch-Lehrer und spätere Trauzeuge meinte drei Wochen vorher noch sarkastisch, es gäbe doch sehr schöne Schlafplätze unter den Brücken São Paulos. Inzwischen ist er eingebürgerter Deutscher. Mittwoch vor dem Abflugtag am darauffolgenden Montag besorgte mir das Anwaltsbüro in Brasilien ein Zimmer, Samstag kam die Kreditkarte und Montag ein bisschen Geld aus der Familie. Der letzte Griff vor der Abreise ging in einem Anfall aus Geistesgegenwart auf den Schreibtisch, wo die Präsentation der brasilianischen Kanzlei lag. Mir war gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass ich die Adresse ja nirgends aufgeschrieben hatte. Der Flug mit Take Another Plane war unendlich lang wegen der achtstündigen Wartezeit in Lissabon, das Flugzeug war allerdings nur zu einem Drittel besetzt. Natürlich hatte ich erwartet, dass mich am Flughafen in São Paulo jemand abholt. Ich war ja ahnungslos damals. Ich stand also eine Weile ratlos herum, bevor ich mich mit meinen Schulportugiesisch auf die Suche nach Münzen für das Telefon machte. Im Café wollte ich Münzen tauschen, was mir ein verachtendes Lächeln des Kassenmannes eintrug. Hier, so sagte er auf Portugiesisch, telefoniere man mit "fichas" und nicht mit Münzen, also mit so münzartigen runden Plastikdingern. Die brasilianische Variante, um das Knacken von Münztelefonen zu verhindern. Stolz über meine Portugiesischkenntnisse, weil ich ihn verstanden hatte, fragte ich ihn, wo ich die bekommen könne. Von dem anschließenden Gebrabbel verstand ich ungefähr so viel wie "da hinten". Später merkte ich, dass die Brasilianer das ganz gern sagen, das "da hinten", entweder weil sie es nicht wirklich wissen oder weil sie keine Lust haben, es zu erklären. Noch später machte ich die Erfahrung, dass Wegbeschreibungen von Brasilianern im Allgemeinen eher einem Happening ähneln, aber kam zur Wegsuche taugen. ****** Als ich in der Kanzlei anrief, meldete sich eine verschnupfte Frauenstimme. Ich erklärte, wer ich sei und wo ich mich befand. "Bist Du in Cumbica?!". Das ist, wie ich heute weiß, ein Stadtteil der Gemeinde Guarulhos, in der sich der internationale Flughafen São Paulos befindet. Böse Zungen behaupten, dass das indianische Wort Cumbica so viel wie nebliger Ort bedeute, aber niemand einen Indianer gefragte hätte, bevor man den Flughafen dort gebaut habe. Ich sagte, ich hätte keine Ahnung, sicher sei jedenfalls, dass ich am internationalen Flughafen in São Paulo sei. Ich wurde noch etwa sechsmal weitergestellt, bevor ich nach einigen Minuten wieder bei der netten Dame landete. Erfreut meinte ich: "Ich bins wieder, wir hatten vor zwei Minuten schon mal miteinander gesprochen." Sie konnte sich an zwar nicht mehr an mich erinnern, schließlich erhielt ich nach längerem hin und her aber den Rat, den Reisebus in den Betonkoloss zu nehmen. ***** Als ich in der Kanzlei ankam, stellte sich heraus, dass es dort einen Tag vorher eine Spaltung gegeben und der Anwalt, der für mich zuständig sein sollte, Hausverbot hatte. Und während ich da noch wie bestellt und nicht abgeholt im Büro des besagten Anwalts saß und der Dinge harrte, die da kommen mochte, kam eine junge Referendarin herein und nahm ein Telefongespräch an. "Ja, der sitzt hier", flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand auf Portugiesisch, "willst Du mit ihm sprechen?". Pause. "Und was soll ich ihm sagen?" Nach stundenlangem Herumsitzen wurde ich später von einem anderen Referendar mit den Worten in ein Taxi verfrachtet, dass man in São Paulo nach Einbruch der Nacht nicht mehr zu Fuß gehen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren sollte, weil es zu gefährlich sei. Mit meinem Referendargehalt, dachte ich noch so, würde ich angesichts dessen bei einem Realkurs über dem Dollar, keine zwei Wochen auskommen. ****** Als ich schließlich das Zimmer sah, wusste ich, dass ich die Lacher später auf meiner Seite haben würde. Es war ein Mädchenzimmer mit rosa Möbeln und einem Popstarposter an der Innenseite der Schranktür. Über dem Kindertisch am Fußende des Bettes hingen ebenfalls zwei Poster: eines von einem jungen Hund mit einem Küken zwischen den Vorderpfoten und darüber die Zeichnung eines debil grinsenden Kaninchens in Rennpose (Vorderpfoten zwischen den Hinterpfoten) mit der Aufschrift: Heute ist ein weiterer Tag, um glücklich zu sein. Völlig übermüdet warf ich mich aufs Bett und dachte solche Sachen wie "Was machst Du hier?" und "Was hast Du bloß getan?". Dann fingerte ich meinen walkman raus und fand den großartigsten Punkradiosender, den man sich vorstellen kann.
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